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Während in der Dichtung der Autor von innen nach außen blickt, ist es in seiner neuesten Bildserie genau umgekehrt: Der Fokus geht von außen nach innen, die Berichterstattung über das eigene Befinden ist ausgeblendet. Was man in den Gemälden sieht, ist ein beschreibender Blick auf das „Gefängnis“ mit seinen – aus ver- schiedenen Blickperspektiven – dominierenden Gitterstäben. Stricto sensu kann man von einem „golde- nen Käfig“ sprechen, die außerordentlich prachtvolle Vegetation hinter den Gittern deutet darauf hin. Andere – sehr schematisch wirkende – Darstellungen von Händen, die an den Gitterstäben zu rütteln scheinen, fügen sich in den Drang nach Freiheit. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem so breit angelegten Universum des „freiwilligen Gefängnisses“ in Raabs Gedicht und der beabsichtigten Begrenzung der Gemälde, die somit nur teilweise mit den Versen übereinstimmen: Während der Dichter im Dialog mit einer Geliebten steht, ihren wärmenden Worten lauscht, das Echo ihrer Stimme und ihres Lachens wahrnimmt, bleibt der Bewohner des Käfigs seltsam „stumm“. Sein vor Wut gerötetes Gesicht erblickt man gelegentlich, die Hände, die an den Gittern rütteln, ebenfalls, den Raum, aus dem er auf den schönen Sonnenaufgang blickt, aber kaum. Es liegt an der Schwierigkeit des Herstellungsprozesses, dass es so gut wie unmöglich ist, durch die Verformung der Oberfläche des Aluminium- oder Stahlblechs entlang der vorher durch die Malerei bestimmten Konturen einen Innenraum zu bilden. Deshalb beschränkt sich die Reliefbildung auf die Konturen der Gitter, die dadurch viel stärker auf die Unfreiheit verweisen. Sie verfolgen die Wege der Erkenntnis, so wie sie Raab in seinem Gedicht beschreibt, als ihm deutlich bewusst wird, was er kann und was nicht. Erst durch eine Reihung der Bilder zur Serie From behind these Bars und durch die Korrespondenzen mit der an William Blake erinnernden Dichtung wird die künstlerische Intention von Simon Raab deutlich: Beides – das Gedicht und die Malerei – sind „Schlüssel, die Versprechen der Freiheit“, ohne die die Welt der Schöpfung unvorstellbar wäre. Ähnlich wie William Blake in seinen Songs of Innocence musste Simon Raab seinen „goldenen Käfig“ ver- lassen, um in Dichtung und Malerei über die menschliche Existenz zu philosophieren. Im Unterschied zu seinen Parleau-Bildern spricht er hier auch über sich. Eines Tages wird vielleicht auch ein Parleau- Selbstporträt folgen. Sie werden möglicherweise genauso selten sein wie jene von Blake. Die Tradition der englischen Malerei sah im Selbstporträt keinesfalls nur eine routinierte Aufnahme des eigenen Ichs, son- dern verstand es immer auch als ein Zeugnis der Selbsterkenntnis als eigenständige künstlerische Persönlichkeit in einem besonderen gesellschaftlichen Kontext.12 Die Rötelzeichnung von William Blake im Victoria and Albert Museum in London bestätigt das. Simon Raab bleibt seiner Parleau-Serie treu: Die Wahl des Porträts eines anderen ist immer ein Hinweis persönlicher Vorlieben und persönlichen Respekts – auch dies eine Art von gespiegeltem Selbstporträt. 1 Simon Raab, Parleau, hg. von der Galerie Peter Zimmermann, Mannheim 2010, S.16. 2 „Parleau entwickelte sich als Simulation des Blicks durch eine gekräuselte Wasserober- fläche. Das Spiel des Lichts,die Intensität der Farben,die spiegelnden Eigenschaften der Objekte unter der Oberfläche,all das zieht mich unwiderstehlich an.“ Simon Raab,„Erklärung des Künstlers“, in: ebd., S.117. 3 Newton hatte seine Antrittsvorlesung in der Londoner Royal Society über die Theorie der Farben gehalten. Seine Notizen „On Colour“ dienten als Grundlage für das Hauptwerk Opticks: or A Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light (Optik oder eine Abhandlung über die Reflexion, Brechung, Krümmung und die Farben des Lichtes; 1704), das Raab auch indirekt in seinen Parleau-Notizen reflektiert. 4 Raab zitiert Freeman Dysons Forderung: „Wir brauchen Häretiker, die die Dogmen infrage stellen“ – und sieht sich selbst als einer von ihnen. Raab 2010, a. a. O., S.80. 5 „Alas to be closest to reality we must let go of our preconceptions and false anchors.“ Raab 2010, a. a. O., S.118. 6 „Alles ist temporär, undefiniert, chaotisch und unbehaglich. Ich möchte, dass Sie sich im frustrierenden Unbehagen entspannen und sich auf den Turbulenzen des Ungewissen treiben lassen.“ Raab 2010, a. a. O., S.117. 7 Das Gedicht „From behind these Bars“ hat Simon Raab als eine Art Begleittext zu seiner neuen gleichnamigen Bildserie geschrieben. Siehe S.55, deutsche Übersetzung S.60. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Siehe auch Heinz Ludwig Arnold und Theo Buck, Positionen des Erzählens. Analysen und Theorien zur deutschen Gegenwartsliteratur, München 1983. 11 William Blake, „The School Boy“, in: Songs of Innocence, Tafel 7. Blakes Zeichnung zu diesem Gedicht (oder war es umgekehrt?) ist rätselhaft, sie zeigt insgesamt fünf Personen, deren Tun unklar bleibt. Der eventuellen Deutung der reichlich wuchernden Vegetation als Baum der Erkenntnis widerspricht die Figur eines Jungen (?), der ganz oben im Astgeflecht zu sehen ist und eher an einen Toten denken lässt. 12 Die Londoner National Portrait Gallery bewahrt diese Tradition.