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Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war eine Sicht auf die Welt, die den Anspruch auf Authentizität und Gesamtheit erheben konnte, endgültig nicht mehr denk- bar. Zwei zentrale Ereignisse haben wesentlich dazu beigetragen. Zum einen der Erste Weltkrieg, der eine Fassade der Humanität und Völkerverständi- gung erbarmungslos niederriss, und zum anderen der Untergang der Titanic, der einer Technikgläubigkeit, der zufolge alles machbar war, das frühe Grab schaufelte. Die Kunst hatte die Zersplitterung der Welt in Fragmente da bereits vorausgesehen. Das Ende der alten Kunst schien eingeläutet, die Geburt einer neuen war bereits verkündet. Es sollten viele Künste sein, die die alte beerben wollten. Auf der einen Seite Expressionismus, Dadaismus, Verismus, Surrealismus und auf der anderen Seite die Entstehung des Supre- matismus, des Konstruktivismus und der gegenstandslosen Kunst. Einhundert Jahre später haben wir die Ismen weitgehend hinter uns gelas- sen, eine Avantgarde in der Kunst existiert nicht mehr, dafür herrscht eine Vielfalt individueller künstlerischer Positionen, die den Zustand der Welt jeweils aus ihrer eigenen Perspektive beschreiben. Die Mauern zwischen den Künsten sind ebenfalls in Erosion begriffen: Malerei und Fotografie vermischen sich zunehmend, bei Skulptur, Relief, Tafelbild verschwimmen die Gattungsgrenzen. Daraus entstehen neue Formen der Kunst, zwanglos und innovativ. Simon Raab ist einer der Künstler, die diese Gattungsgrenzen ganz bewusst überschreiten, indem er Malerei und plastische Form zu etwas gänzlich Neuem gestaltet. In einem traditionellen Akt der Malerei wird zunächst ein- mal Farbe auf Aluminium- oder Stahlblech aufgetragen – das Bild entsteht. Dieses wird dann vom Künstler von Hand verformt, sodass eine gebrochene und zerklüftete Oberfläche entsteht – eine Art Relief. Genau genommen ist dieser Begriff natürlich falsch, da er auf die autonome Malerei, die die Fläche bedeckt, keine Rücksicht nimmt. Tatsächlich entsteht hier eine Mischform, die es vorher nicht gegeben hat. Die bewusst in Kauf genom- mene Zerstörung oder besser: Verformung der Malerei, aus der eine neue Bildform erwächst, geht mit der Fragmentierung der Welt, der tatsächlichen wie der vom Menschen empfundenen, einher. Ich bin nicht abergläubisch – das bringt Unglück! (Eckart von Hirschhausen) Die Welt ist näher zusammengerückt, und damit hat sich unser Blickwinkel fundamental verändert. Auch vermeintlich entlegene Gegenden sind nicht mehr länger unerreichbar; damit ist jedoch auch eine Sicht der Welt entstanden, die wie im Kaleidoskop viele Dinge gleichzeitig sehen und geschehen lässt. Als weitgehend unbeteiligter Konsument der Bilder und Geschehnisse sind wir mit dieser speziellen Form der Globalisierung leicht überfordert. Konsequenterweise lässt Raab seine Bilder in gewisser Weise zu changie- renden Zerrbildern der Wirklichkeit werden, bildnerischen Fata Morganen, die eine Vielzahl visueller Möglichkeiten bieten. Wenn der Künstler einer- seits auf kubistische Bildstrategien rekurriert und verschiedene Blickwinkel und Blickachsen ins Spiel bringt, so verweist er durch die Wahl des metal- lenen Malgrundes andererseits auf industrielle Produktionsverfahren, die konträr zur handwerklichen Arbeit des Künstlers stehen. Ebenso arbeitet Raab sowohl mit abstrakten oder gegenstandsfreien Bildstrategien, wie er Dinge der gegenständlichen Welt und der unterschiedlichsten alltäglichen Erfahrung zeigt (wie Flaggen, Warteschlangen, Handgranaten, Porträts, EKG-Kurven usw.), um diese aus dem Fluss der Ereignisse und Sehmomente herauszufiltern und damit jedem Augenblick eine einzigartige Bedeutung zu verleihen. Festgehalten im Bild, wird dieser Augenblick jedoch durch den Kontextwechsel in eine ästhetische Erfahrung transportiert und damit dem Alltag enthoben. Raab genießt diese Widersprüchlichkeiten, die vielleicht am genauesten unsere zeitgenössische conditio humana, in der alles mög- lich geworden ist, widerspiegeln. Auf der spezifisch amerikanischen Tradi- tion der Pop-Art aufbauend, bevorzugt der Künstler banale Images aus dem Alltag (z.B. die Dollarnote), die jedoch anders als in den 60er Jahren keine Ikonen das Alltags meinen, vielmehr tatsächlich unbedeutend bleiben und nicht wie in der Werbung stark vergrößert und damit in der Bedeutung über- höht werden. Vielmehr lässt der Künstler seine Objekte und Geschehnisse wie durch einen fehlerhaften Drucker laufen. Das Ergebnis sind facettierte Ansichten in Reliefform, die das Licht aus allen Winkeln reflektieren und beim Betrachter manchmal den Eindruck von Kirchenfenstern im Sonnen- licht hinterlassen. Die Arbeiten scheinen aus sich heraus zu leuchten, wie Edelsteine, die bei entsprechender Beleuchtung im geeigneten Blickwinkel aufleuchten und ihr Innerstes enthüllen. Spieglein, Spieglein an der Wand … (die böse Königin in „Schneewittchen“) Simon Raab gibt ein Bild unserer Wirklichkeit, indem er Einzelszenen aus der alltäglichen Erfahrungswelt des Betrachters schlaglichtartig beleuchtet. Da wir über kein kongruentes Bild der Wirklichkeit mehr verfügen, sind in der Konsequenz auch seine Bilder disparat und geben jeweils nur Ausschnitte wieder, die zudem zufällig erscheinen. Gerade die Verzerrung des Blickwin- kels jedoch lässt den Betrachter Abstand nehmen vom gewohnten Sehen und eine visuelle wie intellektuelle Neuinterpretation zu. Alice entdeckt in Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln eine Welt, in der alles auf den Kopf gestellt ist. Das Thema der „verkehrten Welt“ hat in der Kunstgeschichte Tradition. Eine widersinnige, Gottes Gesetzen widersprechende Ordnung herrscht hier und belehrt den Betrachter im Umkehrschluss über das rechte Maß der Dinge. Raabs Bildstrategien brechen mit der Tradition eines intakten Bildes – er ver- formt die Bildfläche und nährt so die Skepsis des Betrachters vor einer Wirklichkeit, die in all ihren Aspekten heute perfekt manipulierbar gewor- den ist und in der wir unseren Augen nicht mehr trauen können. Mit den Möglichkeiten digitaler Fotografie vertraut, nehmen wir es als gegeben an, dass Fotografien nicht mehr unbedingt das wiedergeben, was die Kamera erfasst hat (wenn man das von der Fotografie jemals behaupten konnte). In der Malerei liegen die Dinge komplizierter. Niemand vermutet hinter einem gemalten Bild ein authentisches Bild der Wirklichkeit. Trotzdem trans- portiert Malerei immer einen Akt der Erkenntnis von Realität, nämlich in ver- dichteter Form. Raab macht diesen Prozess der Abstraktion des Sehens (und zwar beim Künstler wie beim Betrachter) in seinen Deformierungen deutlich und entwirft damit ein neues, zeitgenössisches Bild der Wirklich- keit. Wie in einem Videoclip wechseln die Bilder vor dem Auge des Betrach- ters: ein Clown, tibetische Flaggen, ein Stierkämpfer. Wir zappen uns durch eine Bilderwelt, die in allen ihren Ausformungen und ihren Nicht-Zusam- menhängen die unsere ist, Bild für Bild. Die Zusammenhänge muss der Betrachter jeweils für sich selbst definieren. Der Künstler, der auch Physi- ker ist, hat kein Interesse an einer Belehrung durch Bilder. Er konstatiert vielmehr mit ihnen den Stand einer visuellen Erfahrung, die fortschreitet. Und er durchbricht sie mit seinen Bildern, die nicht wegzuzappen sind, die visuelle Stolpersteine im Fluss der medialen Bilder darstellen, Bilder, die die Ästhetik der Jetztzeit aufgreifen und die Faszination und Schönheit des gemalten Bildes festhalten.