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Simon Raab Am Ende des Prozesses aber erscheint das gemalte Motiv im Zufallsgefüge des planvoll geschundenen Materials in unvorhersehbarer Gestalt wieder. Aus den Falten des Metalls taucht es plötzlich auf: ein neues, irritierend zwiespältiges und zweifelhaftes Motiv. Und dabei brennt sich ein unab- weisliches Charakteristikum in den Sehnerv des Publikums ein: inszenierte Vagheit. Simon Raab zeigt sich als ein Meister der Amalgamierung von Antithesen bis zum einleuchtenden Kurzschluss: Gegenstand und Ab- straktion, Malerei und Skulptur, Kitsch und Kunst. Er macht seine hybriden Reliefs zu Wahrnehmungsfallen, in denen der Dreiklang von Material–Farbe– Licht endlos echot. In wechselseitigen Interferenzen beginnt ein Teufels- kreis der Transzendenz zu rotieren – und der Betrachter findet sich unversehens ins Bild verwickelt. Auch Wahrnehmung kann zum Abenteuer werden. Im Akt der Anschauung – im Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft, wenn die Gegenwart zum Stillstand kommt – enthüllt sich Zeit als biomorphe Größe, als persönliche Qualität desjenigen, der schaut. In der Ära der Informationstechnologie kommt im Zeitbegriff, den das Kunstwerk lehrt, die anthropologische Konstante „Mensch“ zum Ausdruck. Wie die Formbildung gehört auch Wahrnehmung zum Status der reinen Existenz. Wahrnehmung stellt Fragen, für die sie Antworten im Kunstwerk sucht, und ist ihrerseits Antwort auf die Frage, die das Kunstwerk stellt. In der Kunst zum Beispiel, muss man immer da sein, sofort, ohne Einleitung, ohne Erklärungen, ohne Vorworte: ansetzen und da sein – reine Existenz. Gottfried Benn Wie der Künstler sich als amorphes Medium, doch nicht ohne individuelle Penetranz, in die Energieprozesse des Materiekosmos möglichst störungs- frei, aber katalysatorisch einklinken muss, so auch der Betrachter, der im Energiefeld von Phänomenen wahrnimmt, schauend antwortet, antwortend fragt und sich dabei entrückt – stets zugleich in beide Richtungen. „Wie herum? Wie herum?“, ruft Alice beim Wachsen im Wunderland, das zugleich ein Schrumpfen ist. Der Fall ins Kaninchenloch verbürgt nirgendwo Ankunft, lediglich die Erfahrung eines Paradoxons: Sinn zirkuliert im Unsinn, nimmt also immerfort beide Richtungen des Verrückt-Werdens an. Der Betrachter hinter den Spiegeln schaut auf die Kehrseite der Oberfläche und entdeckt, dass die andere Seite nur die umgekehrte Richtung ist. So schärft Kunst den produktiven Sinn für Widersprüche und trainiert den kreativen Umgang mit unbekannten Situationen. Sie ist – vielleicht mehr als die Wissenschaft – energetischer Impuls für Zukunft, weil sie über Grenzen hinausführt, implizit überfordert und daher eine kathartische Funktion erfüllen kann. Für den Hirnforscher Wolf Singer hat Kunst folglich art- erhaltende Bedeutung: „Mir scheint, dass eine Bewältigung anstehender Überlebensprobleme nur dann gelingen kann, wenn neben der rationalen Durchdringung der Systeme, in denen wir existieren, Kommunikations- verfahren gepflegt werden, die in der Lage sind, komplizierte Sachverhalte erfahrbar zu machen. Nur dann kann Wissen auch wirklich Handeln lenken. Es könnte also sein, dass wir ein Entwicklungsstadium erreicht haben, in welchem eine Fähigkeit, die zunächst als Epiphänomen bestimmter adaptiver Funktionen entstanden ist, plötzlich eine wichtige, möglicherweise arterhaltende Funktion bekommen hat. Wenn das so ist, dann werden jene Gesellschaftssysteme überleben, die die künstlerische Begabung ihrer Mitglieder ausschöpfen und die Sprache der Kunst verstehen.“ Ich glaube an die Befähigung des Künstlers, die Zeit im Lot zu halten. Jürgen Ponto Simon Raab bezeichnet seine spezifischen Objekte zwischen Malerei und Skulptur mit einer selbst erfundenen, hintersinnigen Wortprägung: „Parleau“. Das Wort erweist sich als anglisierte Version von französisch „par l’eau“ – „durch das Wasser“, man muss hinzufügen: gesehen, wahr- genommen, gefiltert. Wie durch die gekräuselte Oberfläche von Wasser hindurch in einer unbe- stimmten Tiefe schemenhaft, doch in voller Präsenz sichtbar, formen sich seine Motive aus den Urgründen eines ganz anderen Materials mittels der Reflexionsfähigkeit des umgebenden Lichts wie in einem Brennspiegel: Porträts aus verschiedenen Milieus der Gesellschaft und der Literatur, Gegenstände des Alltags, politische Symbole. Verfremdet durch den mal- trätierenden Umgang mit dem spiegelnden Trägermaterial, revitalisieren und steigern sie sich zur Kenntlichkeit im wahrnehmenden und rekonstruieren- den Bewusstsein des Betrachters. So wird deutlich: Hier geht es nicht um Wiederholung und Identität. Hier wird Mutation statt Imitation gefordert: Durchgang der Denkarbeit durchs Material, Penetration und Rettung des Materials durch Denkarbeit. Als Physiker wie als Künstler geht es Simon Raab um einen operativen Eingriff in den Stoff Leben: Zertrümmerung und Modellierung von Bewusst- sein, Formkomplexe erfinden und ausdeuten, das Echo des Materials auf- nehmen und weitertragen. Mit den Trümmern des Materials Metaordnungen entwickeln: Rangverhältnisse, Rhythmen, Spannungen. Und dann: vom Schauplatz zurücktreten und überlegen, fortnehmen und neu ansetzen, da beschleunigen und dort abwarten. Das ästhetische Klima, das seine Materialassemblagen erzeugen, ist post- modern: Es zielt über das Einzelwerk und die Meistererzählung hinaus auf eine brisante Mischung aus Affirmation und Distanz, Intensität und Zerstreuung, Konzept und Pop. Simon Raab, der vom Wissenschaftler zum Künstler avancierte Zeitgenosse, ist selbstbewusst genug, seine Kunst als komplette Konstruktion zu begreifen – und dennoch an sie zu glauben. Auch in diesem Widerspruch ist Kunst der einzige Zwilling, den das Leben hat. Und erinnert euch, dass das Auge ein edles, doch eigensinniges Tier ist. Ossip Mandelstam