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Nicht allein, weil er in den frühen Jahren seines Schaffens als einer der ersten Künstler mit gesprühten Lackfarben auf metallischen Trägern arbeitete, sondern vielmehr, weil seine Skulpturen und Reliefs, die er aus gefundenem metallischen Material, aus Teilen abgewrackter Autos, Blech- dosen und Ähnlichem collagiert, immer auch nach den geheimnisvollen Gesetzen des Spiels der Farben zusammengefügt sind. Dabei vertraut Chamberlain im Prozess der Kombination der unterschiedlichen Fragmente ganz auf das Moment der intuitiven Entscheidung, vergleichbar dem plötz- lich und mit Vehemenz gesetzten Pinselzug, der zur charakteristischen Geste im Duktus des Abstrakten Expressionismus wurde. Und so sind die farbigen Collagen, Reliefs und Skulpturen Chamberlains immer wieder als eine Fortschreibung des Abstrakten Expressionismus in den dreidimensio- nalen Raum beschrieben worden. Auf die Frage, ob seine für die Wand kon- zipierten Reliefs als eine Form dreidimensionaler Malerei verstanden werden könnten, antwortet Chamberlain: „Ich weiß es nicht. Anscheinend muss es eins von beiden sein. Ich weiß nur, was mich beeinflusst hat. Ich glaube, der Einfluss des Wörtersammelns5 war wichtiger als die Frage, ob ich Maler oder Bildhauer bin. Ich glaube, ich bin Bildhauer. Ich manipuliere und bewege Objekte. Ich male nicht auf Leinwand. Sicher, in meinem Werk spielt auch das Malen eine Rolle, aber es geht um ein Objekt, das man anfassen kann. Ich halte das nicht für so wichtig. Wichtig ist für mich der Widerstand dieses besonderen Metalls, mit dem ich arbeite. In meiner Vor- stellung hat es etwa so viel Widerstand und Volumen wie Menschen. Ich glaube, dass der Widerstand dieses Metalls, seine molekulare Struktur, durchaus vergleichbar mit dem von Menschen ist. Es geht um Einstellung und Haltung, nicht bloß um Fantasie. Die Fantasie liegt in der Abstraktion dieses Metalls als Collage oder als Metallgemälde oder wie Sie das nennen wollen … das ist mit Entscheidungen eines bestimmten Menschen verbun- den … mit mir.“6 Die zentrale Entscheidung im Werk John Chamberlains ist ohne Zweifel die Verneinung der begrenzten Fläche des rechteckigen Bildgevierts als Ort der Farbe. Bereits in seinen frühen Zeichnungen, so hat Chamberlain berichtet, hatte er Probleme mit den Rändern des Zeichenpapiers. Die Begrenzung der Fläche, die jedem Zeichen auf dem Papier eine hierarchisch strukturierte Bedeutung gab, je nachdem, ob es im Zentrum oder näher an den Rändern platziert war, vor allem aber die Erfahrung, dass das Bild in seiner begrenz- ten Flächigkeit unausweichlich Träger einer illusionistischen Bildvorstellung ist, wurde Chamberlain als Problem bewusst. „Ich hatte dieses Problem mit den Zeichnungen, ich hatte ein Problem mit dem Papierrand. Ich wusste nicht, wie ich darüber hinausgehen sollte … Es klingt absurd, doch ich hatte dieses Problem. Ich legte also das Papier auf den Boden, so dass alle Blät- ter zu einem großen Blatt wurden. Und dann legte ich los, und wo immer eine Linie war, ein Unterbruch zwischen zwei Blättern, machte ich einen Strich oder etwas, um zu versuchen, sie miteinander zu verbinden. Wenn ich sie dann auseinander nahm, war ich schon über das Blatt hinausgegangen. So hatte ich den Eindruck, ich sei außerhalb des Blattes.“7 Der so gewis- sermaßen ausradierte Raum des Bildes führt dazu, dass das Bild selbst zu einem realen Objekt im Raum wird und nicht mehr als Schaufenster in eine andere Wirklichkeit dient. Auf dieser Spur entwickelte Chamberlain seine skulpturalen Objekte. In der dritten Dimension des Skulpturalen entfaltet sich der Raum, in dem das malerische Spiel der Farben seinen illusions- freien, autonomen Auftritt hat. Und es ist dieser Raum, in dem auch Simon Raab seine Malerei spielen lässt. Es ist dies ein Raum, der autonom und konkret ist in der Lebenswirklichkeit des Betrachters und der keine Grenzen kennt, keine Ränder, der sich aufspannt in den Gezeiten des Künst- lerischen. Donald Judd, der in zahlreichen Texten über das Werk seines Künstler- freundes John Chamberlain dessen Befreiungsschlag für die Autonomie der Farbe gefeiert hat, beschreibt den Zusammenklang der Koordinaten des Künstlerischen in einem umfangreichen Essay, der um das Thema Farbe kreist: „Material, Raum und Farbe sind die Hauptaspekte der bildenden Kunst. Jedermann weiß, dass es Material gibt, das man mitnehmen und ver- kaufen kann, doch niemand sieht Raum und Farbe. Zwei Hauptaspekte der Kunst sind unsichtbar, das grundlegende Wesen der Kunst ist unsichtbar. Die Ganzheitlichkeit der bildenden Kunst wird nicht gesehen. Dieses nicht gesehene Wesen der Kunst und ihre Ganzheitlichkeit, die Entwicklung ihrer Einzelaspekte sowie die Komplexität des Denkens können verdrängt wer- den durch Verfälschungen und Geschwätz über Material, das in Wirklichkeit auch nicht gesehen wird. Auseinandersetzungen über Wissenschaft sind wissenschaftlich, über Kunst sind sie abergläubisch. Sie haben keine Geschichte.“8 Material, Raum und Farbe sind die dominanten Kräfte einer Malerei, die im Sog des Skulpturalen sich entfaltet. Der Strom der Farben bahnt sich seine lichten Schneisen im zerklüfteten Gelände realer Ausformung. Es entstehen kaleidoskopische Brechungen, in denen das polyphone Gemurmel unseres Zeitalters, das in eine Vielzahl der gleichzeitigen Bilder zersprungen ist, sein adäquates Bild findet. Malerei zeigt sich in den Bildern Simon Raabs – allen Versuchen zum Trotz, sie als nicht mehr zeitgenössisches Medium totzu- sagen – als eine der künstlerischen Sprachen unserer Zeit. Da sie nahezu nicht übersetzbar ist und somit stets ihren geheimnisvollen Schleier bewahrt, ist sie die Sprache schlechthin, um das zu formulieren, was wir nicht wissen. Vilém Flusser spricht in Bezug auf die Malerei von einem „ersten Versinnli- chen des Willens“. Im Unterschied zu den Sprachen der Dichtung und der Musik lasse die Malerei den Willen „im Meer der Sinne schweben. Und es setzen sich an das Netz“, das die Malerei auslegt, „gleich Muscheln und Korallen, die Farben und Formen. Das Netz ist sinnlich geworden, […] Far- ben und Formen bedecken es, es ist kein Netz mehr, sondern ein Schleier. Wenn man diesen Schleier betrachtet, dann erkennt man das Netz nicht mehr daran, man sieht nur das Leuchten der Farben. Erst wenn man den Schleier gegen das Licht (der Selbsterkenntnis) hält und durchschaut, sieht man das Netz am Grunde der Farben. Das ist die Malerei, dieser Schleier, der in sich die Gesetze des Willens trägt und auf sich die Farben der Tiefsee der Sinne“.9 In Raabs Bildern wird dieses Widerspiel von Farben und Formen offenbar. Das heißt, das Spiel zwischen Intuition und Kalkül ist als Prozess malerischer Gestaltung offen und sichtbar. In dieser Qualität der luziden 191 5 Chamberlain studierte ab Frühling 1955 am Black Mountain College unter anderem auch in der Literaturklasse des Dichters Charles Olson. „Ich las […], und wenn ich ein Wort sah, das mir gefiel, so nahm ich es heraus und schrieb es auf. So hatte ich diese Sammlung von Wör- tern, die ich gern anschaute. Es spielte keine Rolle, was sie bedeuteten, mir gefiel, wie sie ausschauten. Ich schaute diese Wörter an und setzte sie zusammen, […] es ist ein gutes Bei- spiel dafür, wie ich arbeite. Ich gehe noch immer so vor. Es gibt Material um dich herum, das du jeden Tag siehst. Doch eines Tages springt dich ein bestimmtes Ding an, und du liest es auf und nimmst es mit und legst es anderswo hin, und es passt, es ist genau das richtige Ding zum richtigen Zeitpunkt. Du kannst dasselbe mit Wörtern oder mit Metall tun. Ich glaube, das gehört zu meiner Definition von Kunst.“ („Conversations with John Chamberlain“, in: Julie Sylvester/John Chamberlain, A Catalogue Raisonné of the Sculpture 1954–1985, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles 1986, S.11) 6 John Chamberlain im Interview mit Michael Auping, in: John Chamberlain, Reliefs 1960–1982, Ausst.-Kat. des John and Mable Ringling Museum of Art, Sarasota/Florida 1983, S.16 (Über- setzung: Irmgard Hoelscher) 7 Dieter Schwarz im Interview mit John Chamberlain, Shelter Island Heights, 22.5.2005, in: Dieter Schwarz (Hg.), John Chamberlain, Papier Paradisio: Zeichnungen, Collagen, Reliefs, Bilder, Ausst.-Kat. des Kunstmuseum Winterthur, Düsseldorf 2005, S.12 8 Donald Judd, „Einige Aspekte von Farbe im allgemeinen und Rot und Schwarz im besonderen (1993)“, in: Donald Judd: Farbe, Ausst.-Kat., Ostfildern-Ruit 2000, S.79 9 Vilém Flusser, Die Geschichte des Teufels, Göttingen 1983, S.151f.