Page 1 Page 2 Page 3 Page 4 Page 5 Page 6 Page 7 Page 8 Page 9 Page 10 Page 11 Page 12 Page 13 Page 14 Page 15 Page 16 Page 17 Page 18 Page 19 Page 20 Page 21 Page 22 Page 23 Page 24 Page 25 Page 26 Page 27 Page 28 Page 29 Page 30 Page 31 Page 32 Page 33 Page 34 Page 35 Page 36 Page 37 Page 38 Page 39 Page 40 Page 41 Page 42 Page 43 Page 44 Page 45 Page 46 Page 47 Page 48 Page 49 Page 50 Page 51 Page 52 Page 53 Page 54 Page 55 Page 56 Page 57 Page 58 Page 59 Page 60 Page 61 Page 62 Page 63 Page 64 Page 65 Page 66 Page 67 Page 68 Page 69 Page 70 Page 71 Page 72 Page 73 Page 74 Page 75 Page 76 Page 77 Page 78 Page 79 Page 80 Page 81 Page 82 Page 83 Page 84 Page 85 Page 86 Page 87 Page 88 Page 89 Page 90 Page 91 Page 92 Page 93 Page 94 Page 95 Page 96 Page 97 Page 98 Page 99 Page 100 Page 101 Page 102 Page 103 Page 104 Page 105 Page 106 Page 107 Page 108 Page 109 Page 110 Page 111 Page 112 Page 113 Page 114 Page 115 Page 116 Page 117 Page 118 Page 119 Page 120 Page 121 Page 122 Page 123 Page 124 Page 125 Page 126 Page 127 Page 128 Page 129 Page 130 Page 131 Page 132 Page 133 Page 134 Page 135 Page 136 Page 137 Page 138 Page 139 Page 140 Page 141 Page 142 Page 143 Page 144 Page 145 Page 146 Page 147 Page 148 Page 149 Page 150 Page 151 Page 152 Page 153 Page 154 Page 155 Page 156 Page 157 Page 158 Page 159 Page 160 Page 161 Page 162 Page 163 Page 164 Page 165 Page 166 Page 167 Page 168 Page 169 Page 170 Page 171 Page 172 Page 173 Page 174 Page 175 Page 176 Page 177 Page 178 Page 179 Page 180 Page 181 Page 182 Page 183 Page 184 Page 185 Page 186 Page 187 Page 188 Page 189 Page 190 Page 191 Page 192 Page 193 Page 194 Page 195 Page 196 Page 197 Page 198 Page 199 Page 200 Page 201 Page 202 Page 203 Page 204 Page 205 Page 206 Page 207 Page 208 Page 209 Page 210 Page 211 Page 212 Page 213 Page 214 Page 215 Page 216 Page 217 Page 218 Page 219 Page 220 Page 221 Page 222 Page 223 Page 224 Page 225 Page 226 Page 227 Page 228 Page 229 Page 230 Page 231 Page 232 Page 233 Page 234 Page 235 Page 236 Page 237 Page 238 Page 239 Page 24058 Von hübschen Bomben und anderen Antithesen Simon Raab unterwegs zwischen Bild und Raum Ulrike Lorenz So wie sogar Physiker heute in ihrer wissenschaftlichen Verwirrung annehmen, dass Licht sowohl ein Partikel als auch eine Welle ist, so leben Teufel sowohl in der Lüge wie in der Wahrheit, und beide können nebeneinander mit gleicher Kraft bestehen. Norman Mailer Pretty Grenade (2008/09) ist eine kleine Gemeinheit in süßen Farben. Das Werk hängt – zwischen Bonbonrosa und Giftgrün abgründig schillernd – als zerknittertes Etwas brav an der Wand. Doch Vorsicht! Beim Näher- kommen baut sich die hübsche Blütendolde im Kopf des Betrachters blitz- schnell um zu dem, was sie in Wirklichkeit künstlerisch darzustellen vorgibt: eine Handgranate. Wenn dann ein Lichtstrahl auf die zerklüftete Oberfläche trifft, ist die Gemütlichkeit endgültig vorbei. Das Bild explodiert in einem Feuerwerk aus wild reflektierten Farbstrahlen, bricht in splitternde Spiege- lungen auf und greift in den Umraum über. Im unkontrollierten Ausbruch des Visuellen, egal ob als Partikel oder als Welle oder als beides zugleich, führt sich der Wahrheitsanspruch des Bildes als gefährlich schöner Schein vor – und selber ad absurdum. „Was passiert, ist vollkommen chaotisch, und nichts außer Verwirrung ist vorhersehbar. Das sichtbare Spektrum, in dem wir leben, ist nur ein winzig kleiner Teil des Spektrums dessen, was wirklich ist. Nichts kann für das ge- halten werden, was es zu sein scheint.“ Der das sagt, ist als Physiker ge- schult und kein anderer als der Erfinder perfider Antithesen wie Pretty Grenade. Simon Raab, studierter Oberflächen(!)-Physiker und promovierter Maschinenbauer, agierte die längste Zeit seines Lebens höchst erfolgreich im Grenzgebiet von Wissenschaft und Industrie. Seit einigen Jahren aber macht er seine Grundsatzzweifel an Wirklichkeit und Wahrheit zur Basis für einen neuen Beruf. Seitdem bestimmt er im Hochspannungsfeld zwischen Physik und Metaphysik die Gesetze seiner (Bild-)Welten selbst. Die künstlerische Idee muss keiner Logik folgen. Sie bedarf nicht einer ra- tionalen Rechtfertigung. Allein aus der Fähigkeit, komplexe Imaginations- kraft vorauszusetzen und zu erzeugen, erwächst ihre Existenzberechtigung. Kunst muss nicht die „Wahrheit“ sagen. In diesem Punkt hat sie einen Vorteil gegenüber der Wissenschaft, weil sie in der einfachen symbolischen Darstellung komplexer Sachverhalte Erstaunliches leisten kann. Kunst illustriert nicht Wissenschaft, Philosophie oder gar Glaubensfragen, aber sie macht Abstraktionen fassbar, die in diesen Disziplinen vorhanden sind. Mark Dion Simon Raab hat seine Zweifel an der Wahrheit der Wissenschaft ein- getauscht gegen das dauerhafte Faszinosum der Kunst. Im Balanceakt zwischen Schöpfung und Scheitern vergewissert er sich nun der eigenen Sinn- und Gestaltungshoheit. Damit schwingt er sich auf ein neues Niveau in der lebenslangen Spiralbewegung zu Selbstentfaltung und Freiheit. Geboren 1952 im französischen Toulouse als Sohn eines Exiltschechen und einer Luxemburgerin, wuchs er in Kanada auf, motiviert von einer kreativen Familienatmosphäre, in der er die Mutter als Landschaftsmalerin und einen Onkel als Bildhauer und Glasgestalter erlebte. Kein Wunder, wenn sich der 16-jährige Jugendliche zunächst in Metall- und Glasskulpturen versuchte, dann aber doch erst einmal Physik studierte, um zügig in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Kein Jahr nach Abschluss seiner Promotion in Maschinen- bau 1981 gründete Simon Raab sein eigenes international erfolgreiches Unternehmen für computergestützte Hochpräzisionsmessgeräte. Er errang 70 Patente für seine Messsoftware zur Erstellung digitaler 3-D-Modelle und für Lasergeräte, die bis heute ihren Einsatz in hochdiffizilen Bereichen der Medizintechnik – etwa bei der Heilung von Knochenbrüchen oder in der Augen(!)-Chirurgie – finden. Mit der Erfindung seiner dem Menschen dienenden Maschinen war er zwan- zig Jahre lang – ohne es zu wissen und zu wollen – lediglich auf der anderen Seite der Medaille tätig, die man Magie der Moderne nennt. Und wie ein geheimes Band der Kontinuität zieht sich ein Faktum durch die gesamte Biografie: die Arbeit mit und am Licht. Die Wahrheit der Kunst verhindert, dass die Wissenschaft unmenschlich wird, und die Wahrheit der Wissenschaften verhindert, dass die Kunst sich lächerlich macht. Raymond Chandler Simon Raab macht das Licht zum Protagonisten seiner Kunst. Denn die Mehrdimensionalität seiner raffinierten Material- und Farbassemblagen wird erst durch das Wechselspiel von Licht und Oberflächen mit der Bewegung des Betrachters im Raum sichtbar. Licht wird zur bildkonstituierenden Kraft, während der Künstler die Wahrnehmung seines Publikums unmerklich cho- reografiert. So entsteht jene Aufmerksamkeit, die seine Kunst braucht, um in Erscheinung zu treten. Simon Raab baut seine reliefartigen und raumhaltigen Bilder in einem ver- wickelten, fast alchemistischen Arbeitsprozess auf, der sich als ein konzen- triertes Ausbalancieren von Kalkül und Improvisation erweist. Zuerst ist da eine unbestimmte Idee im Kopf: ein Gegenstand, der ihn nicht loslässt, oder ein Gefühl, das sich verhakt hat. Der innerlich bewegte Künstler sucht sich eine Plattform zum Ausagieren: Großformatige Aluminium- oder Stahlplat- ten werden zum Ausgangspunkt für das Abenteuer der Formbildung. Auf ihren glänzenden Oberflächen trägt der Maler leuchtende, rasch trocknende Acrylfarben in mehreren Schichten lasierend – lichtdurchscheinend – auf. So entstehen gegenständlich flimmernde Motive wie durch Zellophanfolien ge- sehen. Der individuelle Pinselstrich bleibt sichtbar und vernetzt sich über mehrere Farbschichten hinweg bis hinunter auf das blanke Metall zu einem funkelnden Gewebe der Expression. Schon jetzt kommt dem Licht und sei- ner farblich gebrochenen Reflexion enorme Bedeutung zu. Doch erst im nächsten Schritt gibt Simon Raab seinen Bildern die ent- scheidende Wendung in den Raum und in die Tiefe. Er faltet und formt, biegt und beult, presst und quetscht – zu diesem Zeitpunkt ganz Plastiker – die Farbflächen zu einem reich facettierten Relief. Diesen notwendigerweise gewalttätigen Prozess in ein sicheres Ziel zu führen ist ohne die stupende Materialkenntnis des Physikers nicht denkbar. Gefaltetes Aluminium rundet sich schmiegsamer und glänzt in silberner Eleganz, während sich der dunk- ler reflektierende Stahl durch splittrige Oberflächen und scharfe Kanten aus- zeichnet. Diese explosiven Topographien werden auf der Rückseite durch Kunstharz stabilisiert. Auch die Rahmen sind in die Strudelbewegung des Materials, der Farben und des reflektierten Lichts mit einbezogen. So öffnet sich das Fenster des Bildes in den Raum des Betrachters. Die innerbildliche Dynamik wirkt, als sei sie ins Unendliche fortsetzbar.